- Reliquiare und Reliquien
- Reliquiare und ReliquienZum Selbstverständnis mittelalterlicher Kultur und Politik gehörte die Verehrung der »pignora sanctorum«, der Unterpfänder der Heiligen. Dementsprechend standen die Künste zu einem Großteil in deren Dienst: Die Herrscher stifteten den Heiligen für ihre Reliquien - den Überresten aus dem irdischen Dasein - die allerkostbarsten Werke, mit deren Anfertigung sie die Künstler ihrer Zeit beauftragten. Dem Reliquienkult kam im ganzen Mittelalter ein unüberschätzbares Gewicht zu. Denn aus den Überresten strömte vermeintlich das Heil der göttlichen Gnade, die einst schon den irdischen Leib der Heiligen erfüllt hatte. So wurden der heilige Körper und die Gegenstände, die mit diesem in Berührung gekommen waren, zerteilt - in der Überzeugung, dass auch dem kleinsten Teil dieselbe Kraft innewohne wie dem unzerteilten Leib.Im persönlichen Leben und im Leben der Gemeinschaft hatten Reliquien wichtigste Funktionen inne. Sie fungierten bei Gericht als Kläger, sie waren präsent bei der Einführung des Gottesfriedens, mit ihnen wurden Grundstücksgüter zur Besitzeinweisung umschritten, auf Reliquien legte man den Treueid ab, auf sie zu schwören war im Rechtswesen allgemeiner Brauch. Auch ins Feld zog man unter der Anführung von Reliquien: Mit der Rippe eines Heiligen am Schild ihres Anführers trieben die Bürger von Mecheln den ihre Stadt belagernden Herzog Johann von Brabant in die Flucht; die Rippe, die den siegreichen Ausgang der Schlacht bewirkte, erhielt zum Dank eine vom Goldschmied verfertigte kostbare Fassung. Stets lebendig blieb im Mittelalter die Auffassung von der tatsächlichen Präsenz des Heiligen in seinen Reliquien. Man glaubte daher, dass sie Wirkungsmacht und Wunderkraft besäßen, dass sie das Medium des Heiligen seien, dessen Fürbitte, Schutz und Hilfe der Mensch bedurfte. Im Kult des Heiltums - der alten Bezeichnung für Reliquien - kompensierte der Gläubige seine Bedürftigkeit, durch ihn erstrebte er die Sicherung seines Seelenheils.Um in den Besitz von Reliquien zu gelangen, wurden häufig die merkwürdigsten Anstrengungen unternommen. Die Chronisten rechtfertigten auch Diebstahl und Raub, zumal diese oft im geheimen »Einverständnis« der Heiligen selbst erfolgten, wenn sie mit ihrem bisherigen Bestattungsort »unzufrieden« waren. So verteidigt beispielsweise Rather von Verona den »lobwürdigen Diebstahl« des heiligen Metro. Als übertriebene Reliquienverehrung mutet auch an, wenn die Einwohner den heiligen Romuald von Camaldoli, der aus seiner Klause fortzuziehen beschloss, umzubringen gedachten: »Weil sie ihn nicht als Lebenden zurückhalten konnten, wollten sie ihn wenigstens als toten Leichnam besitzen, damit er das Patrozinium über ihr Land übernehme«. Den Märtyrer Eudald zerriss das Volk, um sich seiner Überreste zu bemächtigen. Auch Franz von Assisi war besorgt, zu Reliquien verarbeitet zu werden, und mied deshalb auf seiner letzten Reise von Siena nach Assisi Perugia. »Aus Frömmigkeit und um von ihr Reliquien zu haben, lösten oder rissen sehr viele Leute Teilchen von den Tüchern, schnitten ihr Haupthaar und Nägel ab, einige stutzten ihr die Ohren, andere schnitten ihr die Brustwarzen weg«, berichtet Caesarius von Heisterbach über die Geschehnisse am Totenlager der aufgebahrten Elisabeth von Ungarn, der Witwe Landgraf Ludwigs IV. von Thüringen. Schlichte Allesgläubigkeit erleichterte freilich auch reichlichen Missbrauch. Dass Almosensammler mit falschen Reliquien betrögen, wurde immer wieder beanstandet, etwa 1274 auf dem Zweiten Konzil von Lyon. Doch über allem Missbrauch stand die wahre Reliquienfrömmigkeit, die ausgerichtet war auf ein letztes Ziel. Graf Arnulf von Flandern hat es im 10. Jahrhundert zum Ausdruck gebracht: »Nur eins begehre ich, nämlich an Leibern von Heiligen reich zu werden, damit sie durch meine Aufwendungen Ehre gewinnen und ich dagegen durch ihre Fürbitte den Himmelsbürgern verbunden werde.«Den sterblichen Überresten der Heiligen, die als »lebendige Steine« das Himmlische Jerusalem bewohnen, gebührte auf Erden der glänzendste Schmuck aus Materiellem. Den über das Materielle hinausweisenden Glanz der Verklärung erzeugten die Gefäße und Schreine, die Reliquiare, in denen die Reliquien verborgen lagen oder in denen sie, von durchsichtigem Bergkristall umschlossen, gezeigt wurden. So glanzvoll und zur Ehre ihrer Inhalte so herrlich die Reliquiare auch ausgestattet waren, bildeten sie doch nur die Gehäuse der heiligen Gebeine, die - wie es die Chronisten oft betonen - kostbarer waren als Gold und Edelstein. Reliquie und Reliquiar verbanden sich miteinander zur unlösbaren Einheit, gleich ob sich die Reliquien in undurchsichtigen oder in transparenten Gefäßen befanden, ob sie als sakrale Bausubstanz in Kirchenpfeilern verborgen lagen oder in Kirchenwänden und Flügelaltären der Gotik zur Schau gestellt wurden. Allerdings sprachen sich Zeitgenossen auch gegen den Luxus der Heiligen aus, so Guibert von Nogent: »Es sollen keine herrlichen Schreine für die Reliquien angefertigt werden, weil nicht einmal die stolzesten Könige sich einfallen ließen, goldene und silberne Särge für ihre Überreste herstellen zu lassen.« Trotzdem blieb gerade das Hochmittelalter die große Zeit der Überführungen und Erhebungen der heiligen Leiber wie der Errichtung der prächtigsten Reliquienschreine.Die Reliquiare sind von unendlicher Mannigfaltigkeit an Formen und Typen. Oft meldet schon die Form dem Betrachter, von welchem Körperteil die im Behältnis eingeschlossene Reliquie stammt. Kopf, Arm, Hand, Finger, Rippe, Bein, Fuß - jedes Stück des menschlichen Skeletts schuf sich gleichsam sein eigenes Reliquiar, das jeweils die Form des Körperteils annahm, dessen Knochen es einhüllt, verbirgt oder sichtbar zur Schau stellt. Durch die Einfügung von Schädel und Gebein in eine Skulptur menschlicher Form ist auch der Heilige, von dem man nur Teile besitzt, sozusagen zum ganzen Leib in himmlischer Majestät komplettiert. Ausgestattet mit der Identität der Reliquie, erscheint die Statue im Gold- und Edelsteinglanz dem Menschen des Mittelalters als der Heilige selbst. Die heilige Fides in Conques ist »besser gesagt nichts als ein Schrein, der die ehrwürdigen Reliquien der Jungfrau birgt. Der Goldschmied gab ihm auf seine Art eine menschliche Form«, so charakterisiert Bernhard von Angers im frühen 11. Jahrhundert die schon damals berühmte Figur als Reliquiar. Auch in Kruzifixen und in Muttergottesstatuen wurden kleine und kleinste Behältnisse mit oft ganzen Reliquiensammlungen aufbewahrt. So ist auch mittelalterliche Skulptur in ihrer Bestimmung und Erscheinung vielfach ebenso Reliquiar wie ein Objekt der Goldschmiedekunst, dem sie oft genug durch eine kostbare Metallfassung auffällig gleicht. In der Reliquien enthaltenden Heiligenstatue ist der Patron in doppelter Präsenz vertreten: zum einen durch seine eigenen Körperteile vom irdischen Leib, zum anderen durch sein Erscheinungsbild himmlischer Majestät.Den höchsten Rang unter den Reliquien der Christen nahm indes nicht der körperliche Überrest eines Heiligen ein, sondern das Holz vom Wahren Kreuz. Von ihm eine Partikel zu besitzen, bedeutete für den Menschen des Mittelalters das höchste Glück. Für die im Jahre 1239 um 135 000 Pfund erworbene Dornenkrone Christi ließ der französische König Ludwig IX., der Heilige, die Sainte-Chapelle inmitten des Königspalastes in Paris erbauen. Die »grande châsse«, der große drehbare Reliquienschrein, in dem Dornenkrone und Christi Passionsreliquien aufbewahrt wurden, kostete 100 000 Pfund, wogegen sich die Bausumme für die ganze Kapelle einschließlich ihres Glasfenster- und Wandschmucks auf nur 40 000 Pfund belief. Das Preisverhältnis zeigt, welch unermessliche Bedeutung der Dornenkrone beigemessen wurde. Nur der herrlichste architektonische Schrein war ihr ein würdiges Behältnis. »Die ausgesuchten Farben der Malereien, die kostbare Vergoldung der Bildwerke, die zierliche Durchsichtigkeit der rötlich schimmernden Fenster, die überaus schönen Altarverkleidungen, die wundertätigen Kräfte der heiligen Reliquien, die Zier der Schreine, die durch ihre Edelsteine funkelt, verleihen diesem Haus des Gebetes eine solche Übersteigerung des Schmuckes, dass man beim Betreten glaubt, zum Himmel emporgerissen zu sein und in einen der schönsten Räume des Paradieses einzutreten«, so beschrieb Jean de Jandun 1323 die spirituelle Ästhetik der Sainte-Chapelle - einer Reliquienkapelle. Wenn der König die Dornenkrone zeigte, sah man unmittelbar hinter ihm im Mittelfenster der Kapelle die Darstellung der Dornenkrönung Christi, die früheste monumentale Wiedergabe dieses Themas in der Geschichte der Kunst. Im leuchtenden und juwelenartig funkelnden Raum vollzog sich ein liturgischer Akt, der Theologie und Politik, himmlische und irdische Ordnung, Weltenherrschertum und christliche Monarchie, Dornenkrone und Königskrone zueinander in wunderbare Beziehung setzte.Prof. Dr. Anton LegnerLegner, Anton: Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung. Darmstadt 1995.
Universal-Lexikon. 2012.